1992 kam er zu Sei So Frei (damals noch „Bruder in Not“), ohne zu ahnen, dass dieser Schritt seine gesamte (berufliche) Zukunft prägen würde. Nun hat Franz Hehenberger seine Büroroutine beendet – zum Abschied lassen wir vergangene Stationen Revue passieren.
33 Jahre Sei So Frei – was waren Meilensteine, die stolz machen?
Die Professionalisierung unserer Entwicklungsarbeit, unserer Organisation, das war der Meilenstein schlechthin: die Strukturreform in den 1990ern. Die benötigte viel Kraft, geistigen Input, Empathie und die Überzeugungsarbeit, dass wir mit „Bruder in Not“ nicht mehr alt werden. Alles wurde hinterfragt, Inhalte, was es braucht, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, Umgang mit Projektpartner•innen. Sind immer wir die Chefs, oder gestehen wir den Leuten dort auch zu, etwas zu können? So explizit wurde das aber nicht gesagt, weil es noch die Zeit war, wo man meinte: Wir wissen, wie es geht.
Die Umbenennung in „Sei So Frei“ war Teil dieses Prozesses?
Es war nur noch der letzte Punkt. Von unseren Partner•innen waren wir für unseren Namen kritisiert worden, weil „Bruder in Not“ impliziert, dass Menschen dort in einer Not leben, die sie selbst produziert haben. Das Bild stimmt einfach nicht. Man kann nicht die Verantwortung auf eine Seite schieben, die hat mehrere Standbeine. Ein bedeutendes liegt immer noch in Europa. Es ist schwer vermittelbar, was das Wirtschaftssystem mit Menschen in Afrika und Lateinamerika macht, wie Familien in die Armut getrieben werden. Mit dem alten Namen haben wir sie abgewertet; das ist ein Dreischritt, der den Menschen in der Vergangenheit immer wieder suggeriert wurde: Ihr seid arm, ihr seid dumm, und weil ihr dumm seid, könnt ihr nichts. Bis sie es glaubten. Das ist dann „gottgewollt“, auch die Kirche spielte da oft keine rühmliche Rolle, schlug sich auf die Seite der Machthaber. Diese Geschichte wird gern ausgeblendet.
Hat die Umstrukturierung damals die erhofften Früchte getragen?
Sei So Frei hat sich phänomenal entwickelt, inhaltlich definitiv besser als damals erhofft. Und in finanzieller Hinsicht haben wir uns mehr als verdreifacht. Es hat einiges an Mut gebraucht, aber mein Credo war immer, ich kann nichts verlieren. Denn ich habe arbeiten gelernt, mit zwei Händen, mit Werkzeug, in der Landwirtschaft. Mut hat mich oft begleitet, ich bin Grenzgänger, lotse gern meine Grenzen aus.
Gab es auch Momente, in denen du diese Grenzen überschritten hast?
Ja, zum Beispiel 2007 in Nicaragua, da habe ich hoch gepokert. Meine Begleitperson und ich waren auf der Suche nach einem Lokal, zum Abendessen. Da kommt uns einer entgegen, geladen mit Alkohol. „Buenas noches“, sagt er sehr freundlich – und zieht seine Pistole. Mit dem Entsichern, dem Klicken, fingen meine Gedanken an, Achterbahn zu fahren. Es ging mir weniger um mich als um meine Begleiterin, bis mir bewusst wurde, ich habe daheim eine Frau und drei Kinder. Dann lief der Lebensfilm ab, in Sekundenschnelle. Aber danach konnte ich wieder klar sehen. Und dachte mir, lieber Gott, mach. Mein Problem war, ich hatte viel Geld bei mir, das ich für die Weiterreise brauchte. Also versuchte ich, den Mann im Gespräch zu halten und mich zwischen ihn und meine Begleiterin zu stellen. Er merkte, dass ich etwas in der Brusttasche hatte, das wollte er haben. Es waren Taschentücher. Während er damit beschäftigt war, zog ich aus der hinteren Hosentasche die Geldbörse und gab sie meiner Begleitperson – in Nicaragua sucht niemand bei einer Frau Geld. Sie zitterte so, dass ich Angst hatte, sie lässt die Geldtasche fallen. Nachher konnte ich ihm zeigen, dass ich nichts hatte – damit war es vorbei. Hunger hatten wir dann keinen mehr. Das waren diese Momente in meinem Leben, wo ich gespürt habe, Herrgott, ich brauche dich jetzt. Nachher kann dich eh die ganze Welt wieder haben. – Ich weiß, dass ich da einen besonderen Schutz hatte. Da behaupte ich jetzt einfach, dass ich das spüre, wenn „der da oben“ für mich da ist. Und ich habe ihn auch in die Pflicht genommen. Wie half dir dieses Vertrauen? Ich habe wieder klar denken können. Ohne klares Denken wird es schwierig, in solchen Situationen zu bestehen. Ich löse auch selten Probleme im Vorfeld, weil viele Probleme rein im Kopf entstehen, die gibt es in der Realität nicht. Man muss sich einlassen auf Situationen und dann mit Hausverstand, Wissen und Erfahrung schauen, dass man durchkommt. Nur bauchgesteuert agieren geht schief.
Weitere Meilensteine?
Einen der größten Meilensteine setzten wir mit der Einladung der ugandischen Fußball-Nationalmannschaft nach Österreich, 1998. Die Idee entstand in Uganda bei einem Bier mit einem Tiroler, der Kontakte zum Team hatte. Und letztlich – das sage ich jetzt sehr selbstbewusst – war ich es, der daran festgehalten hat. Alle glaubten, das wird nichts. Und dann waren sie da, die „Cranes“. Fußballer aus Oberösterreich (ein Tiroler Verein war auch dabei) haben die Chance gekriegt, gegen dieses Nationalteam zu spielen. Damit sind wir flächendeckend wahrgenommen worden, es war ein riesiger Schritt in Richtung Öffentlichkeit. Aus heutiger Sicht war es diese Aktion, die verantwortlich war, dass der Höhenflug von Sei So Frei begonnen hat. Die Übernahme eines Projekts in Tansania war dann ein wichtiger inhaltlicher Meilenstein. Prominente österreichische Organisationen waren zuvor jahrelang beteiligt, aber ohne Erfolg. Das Außenministerium wollte die Finanzierung beenden, ich habe gesagt: Setzt das Projekt mit Sei So Frei fort. Die Frage tauchte auf, ob ich eine Organisation vor Ort habe – das war für mich der Knackpunkt. Es gab keine, zumindest nicht am Papier. Im Kopf sehr wohl: Bei früheren Reisen hatte ich mit einer sehr versierten Dame zu tun gehabt, Saria. Sie baute dann unsere Partnerorganisation auf, am 1. Juli 2000 starteten wir mit dem Projekt, das sehr erfolgreich verlief: Das hat Saria geschafft, die mit Gespür und Fachwissen auf Leute zugeht. Es war der Anfang unserer Arbeit mit Partnerorganisationen; das Büro in Guatemala folgte 2005, 2014 dann Uganda.
Wie kamst du ursprünglich zur Entwicklungszusammenarbeit?
Anfangs war ich zur Hälfte KMB-Sekretär und zur Hälfte für „Bruder in Not“ zuständig. Damals hatten wir Projekte in 42 Ländern – keiner hat genau gewusst, was sich dort abspielt. Bei meiner Einstellung habe ich durchgesetzt, dass es Projektreisen gibt, um die Transparenz der Mittelverwendung den Spender•innen gegenüber zu gewährleisten. Wir haben eine Kontrollinstanz eingezogen. Nach der Umstrukturierung habe ich anfangs noch beides gemacht, ich war fast täglich unterwegs und es gab kein Eck in Oberösterreich, wo ich nicht hingekommen bin. Es hat Spaß gemacht, aber der körperliche Tribut war gewaltig. Und das Familienleben daheim, das hat fürchterlich gelitten. Ich bin dann zum Franz Gütlbauer gefahren (damals Sei-So- Frei-Vorsitzender, Anm.) und habe gesagt, ich kann nicht mehr. Wenn ich etwas mache, will ich es gescheit machen. Ich kündige. Er hat dann gemeint: „Ich habe eh schon gemerkt, dein Herz, das schlägt für Sei So Frei. Wenn du nur noch das machen kannst, kündigst du dann auch?“ Mit dem habe ich nicht gerechnet, weil in der Diözese überall eingespart wurde zu der Zeit. Aber der Franz Gütlbauer hat das durchgebracht.
Was wünschst du Sei So Frei für die Zukunft?
Konkret wünsche ich dem Sei-So- Frei-Team ein gutes Standing in der Öffentlichkeit, eine transparente und ehrliche Wahrnahme. Die qualifizierte Arbeit vor Ort ist das eine. Das haben wir intus, das macht Sei So Frei professionell. Aber um dort etwas zu verändern, braucht es die Arbeit hier. Wenn das passt, die Qualitätsarbeit in den Projekten und die Bewusstseinsbildung hier bei uns, dann kommen auch die Spenden. Aber das Geld darf nie an der Spitze stehen.
Überwiegt beim Abschied das lachende oder das weinende Auge?
Definitiv das lachende. Weil ich einen Beruf hatte, der zeitlebens Spaß gemacht hat, mit allen Höhen und Tiefen. Bei meiner Hochzeit habe ich mir ein Lied gewünscht, in dem heißt es: „Mein ganzes Leben sei ein Fahren, zu allen Enden dieser Welt.“ Nachdem ich am Fuße des Böhmerwaldes und ganz nah am Eisernen Vorhang geboren bin, war die Welt nur in eine Richtung offen für mich. Da habe ich dann irgendwann gespürt: Ich muss hinaus. Dass ich definitiv an die Enden der Welt komme, war mir damals nicht bewusst, aber die Sehnsucht war da. Von daher überwiegt einfach das lachende Auge: Es hat sich sehr viel erfüllt in meinem Leben, von dem ich weiß, dass andere nur davon träumen können. Und ich bin demütig, dass ich das erleben durfte.
Das lachende Auge auch, weil jetzt Zeit bleibt für Familie, für anderes?
Ja, unbedingt. Familie war für mich immer das Auffanggremium schlechthin, wo ich sehr viel geteilt habe, Freuden und auch Traurigkeiten. Wo mir meine Kinder heute ein Vielfaches zurückgeben. Und hätte ich nicht die Unterstützung meiner Frau gehabt, hätte ich meine Arbeit sowieso nicht machen können.
Was möchtest du deiner Nachfolgerin mit auf den Weg geben?
Gelassenheit, Mut, diplomatisches Gespür. Empathie und Leidenschaft. Widerstandskraft. Magdalena hat von all dem schon sehr viel, ist klar im Denken, arbeitet leistungsorientiert. Und sie hat die komplexe Sei- So-Frei-Philosophie übernommen. Von daher gehe ich mit Gelassenheit, weil ich weiß, dass es dort gut weiterläuft. Von manchen Seiten hat es geheißen, wie kannst du gehen, Sei So Frei, das ist Franz Hehenberger. Da sage ich nur, das ist Schwachsinn. Sei So Frei ist etwas Eigenständiges. Ich bin genauso Mitarbeiter an diesem Konstrukt wie viele andere, die ihren Teil beigetragen haben.
In welcher Form wirst du Sei So Frei verbunden bleiben?
Auf jeden Fall mental, mit Herz, mit Empathie. Auch wenn ich sage, ich ziehe mich komplett zurück – die Seele, die lässt sich da nicht losreißen, da ist so viel passiert. Mit den drei Partnerbüros, mit den vielen Wegbegleiter•innen in der ganzen Diözese. Es gibt kaum Pfarren, wo ich nicht Leute kenne, viele kommen auf mich zu. Das sind einfach schlüssige Sachen, die Balsam für die Seele sind. Wo ich das Gefühl habe: Ich habe es richtig gemacht. Begleitend werde ich noch im Vorstand da sein, aber mit Ablaufdatum. Ich will nicht der Altbauer sein, der nicht vom Hof geht. Das wäre nicht förderlich. Und auch nicht wertschätzend Magdalena gegenüber.
Geht es in der Pension noch einmal in die Projektregionen?
Ich glaube nicht, dass ich noch einmal hinfahre. Ich habe mich verabschiedet – tränenreich. Also, Tränen nicht nur bei mir, sondern schon auch bei den Partner•innen. Es gehört zu meinen Grundprinzipien, dass ich nicht nachfahre und kontrolliere, was „die Jungbäuerin“ jetzt macht. Die Begeisterung für die Länder bleibt. Die ändert sich aber nicht, wenn ich noch zehnmal hinfahre. Wir haben sehr viel erreicht, mit erfolgreichen Projekten, von daher ist die Zufriedenheit einfach irre groß. Die Dankbarkeit auch, dass ich heute dasitzen kann, gesund, unverletzt, dass ich auch nach meiner „Systemstörung“ wieder komplett zurückgekommen bin. Ich kann wieder Skifahren, das ist eine große Leidenschaft, die ich in den letzten Jahren sehr vernachlässigt habe.
In welche „Projekte“ wird deine Energie jetzt außerdem fließen?
Meine Energie fließt in meine neugewonnene Freiheit daheim. Ich sage bewusst „daheim“, weil ich ein Daheim habe, wo ich viel zu wenig war. Bis vor zehn Jahren habe ich wenig gesehen von Europa, ich kannte mich in der Welt viel besser aus als daheim. Da habe ich Nachholbedarf. Und dann gibt es eine Leidenschaft, die ich schon zu pflegen angefangen habe: Das ist Tarockieren. Mittlerweile werde ich auch zu Tarockturnieren eingeladen, das hängt ein wenig mit dem Netzwerk zusammen, das ich mir aufbauen durfte. Ich schätze das, dass viele persönliche Kontakte halten. Einiges wird sich verändern, keine Frage, da bin ich Ich will nicht der Altbauer sein, der nicht vom Hof geht. nicht blauäugig. Es wird aber auch einiges bleiben.
Wo siehst du die Herausforderungen für die Zukunft von Sei So Frei?
In den Projektländern bleibt die Herausforderung, wie wir unsere Qualitätsarbeit auf die Verantwortungsebene der Politik bringen. In den Verfassungen wäre das festgeschrieben, aber die Regierungen halten sich nicht daran. Für uns ist es immer eine Gratwanderung, uns zu etablieren und gleichzeitig Veränderungswillen zu zeigen. Eine große Herausforderung im übergeordneten Kontext liegt auf der Hand: Wie geht Europa künftig mit Afrika um? Wir beschweren uns über Zuwanderung, aber klammern völlig aus, dass dieser Kontinent irgendwann explodiert, weil sich Afrika schon lang nicht mehr selbst ernähren kann. Die Bevölkerungszahl hat sich in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt, die Leute werden sich bewegen, auch nach Europa. Da braucht es eine Abkehr von der Ausbeutung. Es kann nicht sein, dass Lebensmittel, die uns fehlen, aus Ländern kommen, wo der Großteil der Bevölkerung hungert. Das hören Konzerne und Wirtschaftsminister und Verantwortliche nicht gern, aber ohne grundlegende Veränderungen werden wir mittelfristig nicht überleben. Es braucht mehr Mut: Wir haben so viel Wohlstand, dass ein wenig locker wegfallen darf, ohne dass wir Qualitätseinbußen haben. Es braucht eine Umkehr in Richtung Wertschätzung.
Also Herausforderungen gibt es genug für die Zukunft?
Ja, und da darf Sei So Frei eine wichtige Rolle spielen. Bei allem. Und spielt es auch.
Dr. Franz Hehenberger war nach seinem Jusstudium sechs Jahre als Diözesansekretär bei der Jungschar für das Mühlviertel zuständig, bevor er zur KMB wechselte und dort sowohl Männer- als auch entwicklungspolitische Themen überhatte. Ab 1997 war er ausschließlich für Sei So Frei tätig. Nach 33 Jahren zieht er sich mit 01.06.2025 in den Ruhestand zurück und übergibt die alleinige Geschäftsführung an Magdalena Glasner.